Privacy (Privatsphäre) ist ein Thema im Grundsatzprogramm der weltweiten Piratenparteien.
Wozu Privatsphäre?
Menschen sind nicht genormt. Menschen sind unterschiedlich. Jeder hat eigene Eigenarten, Veranlagungen und Bedürfnisse. Anderssein wird aber innerhalb von Gruppen häufig abgestraft. Wer von den Normen der Gruppe abweicht, wird ausgeschlossen oder verliert seinen Status und seine Anerkennung. In Extremfällen drohen Gewalt und Tod. Privatsphäre ist der Versuch, zu erreichen, dass jemand keine Nachteile erfährt, nur weil er anders ist und von bestimmten Normen abweicht.
Privatsphäre und Datenschutz das selbe?
In Deutschland liegt das Hauptaugenmerk innerhalb und außerhalb der Piratenpartei dabei auf dem Aspekt Datenschutz. Die Reduktion von Privatsphäre auf Datenschutz übersieht aber einige wichtige Aspekte.
Datenschutz funktioniert mittelfristig nicht
Datenschutz im Sinne des Geheimhaltens von persönlichen Informationen ist mittelfristig technisch nicht garantierbar. Je weiter sich vor allem die Nanotechnologie entwickelt und je mehr informationsverarbeitende Systeme das Leben dominieren, desto unmöglicher wird es, zu verhindern, dass persönliche Informationen über Menschen gesammelt werden.
Jeder Versuch, dies durch technische Maßnahmen einzugrenzen, führt nicht zu mehr Datenschutz, sondern dazu, dass nur noch Organisationen diese Maßnahmen umgehen können, die über die entsprechenden finanziellen und technischen Möglichkeiten verfügen. Es entstehen hier Informationsmonopole, die deutlich abzulehnen sind.
Wenn es nicht verhindert werden kann, dass Informationen gesammelt und konzentriert werden können, dann muss sichergestellt sein, dass jeder die gleichen Möglichkeiten zum Zugriff auf diese Information hat, so dass nicht bestimmte Organisationen sich durch ihren Informationsvorsprung Vorteile verschaffen können.
Alle Informationen stehen bereit
Doch niemand der sie gerecht verteilt
Es ist erstrebenswerter, seine Daten nicht schützen zu müssen
Darüber hinaus ist Datenschutz im Sinne des Geheimhaltens von persönlichen Informationen auch eigentlich nur ein Workaround für das grundlegende Problem des Umgang von Gruppen mit Anderssein und bringt selbst Nachteile mit sich. Würde das grundlegende Probleme entschärft, gäbe es sehr viel weniger Bedarf für Datenschutz, aber die Freiheit von Menschen würde zunehmen.
Das Veröffentlichen von persönlichen Informationen ist nämlich etwas, das man eigentlich tun möchte.
Schwule möchten öffentlich dazu stehen dürfen, dass sie schwul sind. Nur so können sie dann auch offen ihre Neigungen ausleben, Partner finden und eine Familie gründen.
Wenn jemand nicht gläubig ist, möchte er öffentlich dazu stehen können und nicht dazu gezwungen werden, an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen und alle Menschen um ihn herum zu belügen. Das gleiche gilt natürlich auch für jemanden, der einen bestimmten Glauben hat: Er möchte ihn offen ausleben können.
Wenn jemand an einer heute als peinlich betrachteten Krankheit leidet, ist es besser für ihn, wenn er andere Betroffene finden und sich mit ihnen austauschen kann und wenn die Leute um ihn herum wissen, warum für ihn manche Dinge nicht funktionieren und er nicht seine Umgebung ständig belügen muss.
Der Ansatz des Datenschutzes kann nur kleine abgeschlossen Räume (private Sphären) schaffen, in denen ein Mensch anders sein darf. Im Extremfall ist dieser Raum auf sein eigenes Gehirn beschränkt. Er darf zwar wissen, dass er anders ist, er darf dies aber niemandem sagen oder sich entsprechend verhalten, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Besser wäre es, ganz offen anders sein zu dürfen, ohne Nachteile befürchten zu müssen.
Alternative: Privatsphäre ohne Datenschutz?
Die technische und kulturelle Weiterentwicklung hin zur Informationsgesellschaft schafft nicht nur Probleme, indem sie den Datenschutz aushebelt, sie schafft gleichzeitig auch Alternativen, die meiner Meinung nach sehr viel mehr Vorteile haben:
Dynamische Gruppenbildung
Traditionell kann man nicht aussuchen, in welchen Gruppen man sich bewegt. Man wurde in eine Familie geboren und hat sein ganzes Leben in dieser verbracht. Man wurde in eine Dorfgemeinschaft geboren und hat sein ganzes Leben in dieser verbracht. Man musste zwangsläufig an einem bestimmten Ort mit bestimmten Menschen arbeiten und das änderte sich nie.
In dieser Umgebung war ein Ausschluss aus der Gruppe oder ein Statusverlust natürlich ein enormer Nachteil. Das konnte man nicht riskieren.
Schon heute in den urbanen Gegenden der früheren Industriestaaten stimmt dies nicht mehr. Hier kann man sehr flexibel die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen wechseln. Man kann andere Menschen finden, die besser zu einem passen und bei denen man so sein darf, wie man sein will. Der öffentliche Umgang mit seinen persönlichen Informationen ist dabei eine Grundvoraussetzung. Wer seine Eigenarten nicht bewirbt, kann niemanden finden, der so ähnlich ist.
Das Internet dient dabei als großer Urbanisierer der Welt. Jeder kann von seinem Zuhause aus in die Welt, in das Global Village, hinaus rufen, wer er ist und Leute finden, die zu ihm passen, ohne dazu tatsächlich sein Local Village, seinen Wohnort kurzfristig verlassen zu müssen. Das tut er dann eventuell später, wenn er weiß, wo er eine zu ihm passende Gruppe gefunden hat.
Normalisierung des Anormalen
Die meisten Dinge, die als unanständig oder anormal gelten, sind viel weiter verbreitet, als man denkt. Das ist einem nur deswegen oft nicht bewusst, weil sich ja jeder Betroffene nicht traut, darüber zu reden. Auch die Betroffenen selbst wissen nicht, dass sie nicht so rare Ausnahmen sind und halten ihre “peinliche” private Eigenheit deswegen geheim.
Je mehr Menschen mit einer bestimmten Eigenschaft öffentlich dazu stehen, desto normaler und akzeptierter wird diese Eigenschaft automatisch auch.
Ein Coming-Out für einen Schwulen ist heute viel einfacher, wo es im öffentlichen Leben so viele bekannte Schwule gibt. Meine Mutter hätte mein Coming-Out sicherlich nicht so gut verkraftet, hätte sie nicht gewusst, dass Patrick Lindner auch schwul ist. Das hat sie mir so auch gesagt.
Eine Internetbekanntschaft, die in Saudi Arabien aufgewachsen ist und jetzt in Großbritannien lebt, hat mir berichtet, wie viele Menschen in Saudi Arabien aus seinem Umfeld ihm bereits gestanden haben, nicht gläubig zu sein. Außer im intimen Kreis traut sich das natürlich niemand dort zu sagen Er vermutet, es gibt sicherlich noch viel mehr, die es sich gar nicht zu sagen trauen, auch nicht im intimen Rahmen, zur Sicherheit. Man stelle sich einmal vor, was passieren würde, wenn an einem Tag 30% der Bevölkerung in Saudi Arabien aufstehen und sagen “Wir glauben nicht an Gott und den Islam”. Wie könnte das ignoriert werden?
Kultur des Ignorierens und Vergessens
Der nächste Schritt besteht dann darin, dass unsere Gesellschaft als ganzes dann irgendwann so vielfältig und heterogen ist, dass es gar keinen Sinn mehr macht, zu versuchen, Menschen in ein bestimmtes Normenschema pressen zu wollen. Die persönlichen Eigenheiten von Menschen werden dann dort, wo sie keine Relevanz besitzen, einfach ausgeblendet.
Eine “Kultur des Wegsehens” wird zurecht als negativ bewertet, wenn es darum geht, wegzusehen, wenn jemand Probleme hat und Hilfe benötigt. Wenn sich aber eine Kultur entwickelt, bei der man irrelevante Details einfach ignoriert und übersieht, so hat dies Vorteile.
Wieso sollte ich jemanden, mit dem ich zusammen arbeite, auf einer anderen Grundlage bewerten als basierend darauf, welche Arbeit er leistet und wie die Zusammenarbeit klappt. Seine Eigenarten spielen dabei nur insofern eine Rolle, als ich einige davon vielleicht kennen muss, um gut mit ihm zusammen arbeiten zu können.
Genauso muss auch die Erkenntnis Teil des öffentlichen Bewusstseins werden, dass Menschen Fehler machen und sich und ihre Meinungen ändern können. Es muss möglich sein, Menschen nicht aufgrund ihrer vergangenen Fehler zu beurteilen, auch wenn man sich noch an sie erinnern kann. Man kann die Vergangenheit auch hinter sich lassen (“vergessen”), ohne dass Neuronenverknüpfungen im Gehirn gelöst werden müssen und ohne dass man Informationen in Medien und dem Netz löscht (“Digitaler Radiergummi”).
Conclusio
Der bisherige Ansatz, Menschen vor negativen Folgen aufgrund ihrer persönlichen Eigenheiten zu schützen, besteht darin, diese Eigenheiten geheim zu halten. In einer zukünftigen Informationsgesellschaft wird dies zumindest teilweise durch einen neuen Ansatz ersetzt werden: Menschen werden vor negativen Folgen aufgrund ihrer persönlichen Eigenheiten geschützt sein, weil diese dann stärker akzeptiert bzw. schlichtweg ignoriert werden. Auch wird es aufgrund der flexibleren Gruppenbildung die Möglichkeit geben, solchen Folgen einfacher auszuweichen.
Dieser neuere Ansatz bietet für den Einzelnen sehr viel mehr Freiheit als der bisherige Ansatz “Datenschutz”.
Brauchen wir noch Datenschutz?
Auf Datenschutz können wir vorerst trotzdem nicht verzichten. Wir bewegen uns zwar in großen Schritten auf eine Informationsgesellschaft zu, in der oben gesagtes gelten wird, sind aber noch lange nicht dort angekommen. Solange dies nicht erreicht wird, sind wir weiterhin auf Datenschutz angewiesen. Man darf dem Einzelnen den Anspruch auf den Schutz seiner persönlichen Daten nicht verwehren.
Dabei gibt es aber auch Grenzen. Zum einen kann Datenschutz nicht immer und überall gelten. In bestimmten Situationen ist es im Interesse einer Gruppe, Transparenz einzufordern, um Nachvollziehbarkeit von gruppendynamischen Prozessen sicherstellen zu können. Eine Gruppe muss die Möglichkeit haben, den Datenschutz in für die Gruppe relevanten Bereichen einzuschränken, wenn es für Gruppenmitglieder entsprechende Ausweichmöglichkeiten gibt, wenn die Mitgliedschaft in der Gruppe kein Zwang ist und andere Gruppen existieren, in die einzelne ausweichen können, wenn sie nicht bereit sind, ihre Daten so weit zu öffnen.
Zum anderen muss zum freieren Umgang mit persönlichen Daten auf freiwilliger Basis ermuntert werden. Denn genau dieser freiere Umgang mit persönlichen Daten ist es ja, der die Voraussetzungen schafft, die die Notwendigkeit für Datenschutz verringern.
Post-Privacy ist durchaus ein interessanter Ansatz. Das auch die Datenschutzdiskussion sich neu justieren muss, sieht man schon daran, dass Datenschutz, Allg. Persönlichkeitsrecht uä inzuwischen häufig zur Unterdrückung missliebiger Informationen zweckentfremdet werden.
Ein guter Beitrag mit interessanten Denkansätzen von dir.
Ebenfalls lesenswert zu Post-Privacy fand ich auch den Beitrag von Christian Heller bei carta.info, siehe http://carta.info/24397/die-ideologie-datenschutz/ und dessen andauernder Selbstversuch unter plomlompom.de 🙂
“Es ist erstrebenswerter, seine Daten nicht schützen zu müssen”
Schon seltsam.. beim Nachdenken auf dem Fahrrad kam ich heute zum selben Schluss. 🙂 Wieso muss man sich eigentlich für seine politische Meinung als aktiver Pirat rechtfertigen bzw. fürchten, dass die Daten über diese Meinung einem später schaden können? Sollte unser “Kernthema” Datenschutz vielleicht nur eine Übergangslösung zu einer freieren und toleranteren Gesellschaft sein?
Utopie? Oder ein großes Ziel für uns Piraten?
Das Problem was ich sehe ist trotzdem dass einem – gerade bei den Piraten – Fehler von früher immer vorgehalten werden; gerade wenn es um Abstimmungen oder Meinungen geht. Gerade _weil_ die Daten immer vorgehalten werden sollen wird ein “vergessen” nicht möglich gemacht. Und solange die Gefahr besteht dass diese “Keule” herausgeholt wird wird auch die Angst da sein dass Daten geschützt werden müssen – weil das Missbrauchspotential einfach zu hoch ist. Nur in einer idealen Welt (und da zähle ich die Piraten nicht dazu) wäre das nicht notwendig. Und so wie man sehen konnte wie sich die Fronten verhärteten sehe ich nicht wie es zu so einer idealen Welt überhaupt kommen könnte. Solange es Leute mit festgefahrenen Meinungsbildern gibt die jede Information nutzen um dem Gegner schaden zu können (durch welche Art auch immer) ist so ein Schutz der Daten leider notwendig.
Ja guter Ansatz. Als ich den auf dem Podium genannt hatte war der ein oder andere etwas verstört so was aus den Reihen der Piraten zu hören, aber eigentlich sind wir genau die richtigen dafür.
In dem Zusammenhang war 2008 ein gutes Jahr beim CCC für diese Themen:
http://events.ccc.de/congress/2008/Fahrplan/events/2979.en.html
http://events.ccc.de/congress/2008/Fahrplan/track/Society/2665.en.html
In letzterem Vortrag wir die These aufgestellt dass es gefährlich ist Informationelle Selbstbestimmung in der Gesetzgebung zu haben, weil diese nicht funktioniert, und man besser nicht drauf bauen sollte.
Gruss
Bernd
Was Du dabei vergisst ist: Vielleicht möchte ja garnicht jeder, dass alles über ihn bekannt wird. Vielleicht möchte sich nicht jeder Schwule outen, selbst wenn es in der Gesellschaft akzeptiert ist. Es geht hier nicht allein um Repressalien, sondern auch darum, dass man gewisse Dinge einfach privat halten möchte und das auch gut und richtig so ist. Daher finde ich Deinen Blogeintrag zu einseitig und nicht richtig durchdacht.
In dem Szenario, das du schilderst, brauchst du trotzdem keinen Datenschutz mehr. Es zwingt dich niemand, Dinge über dich zu offenbaren. Du musst diese Dinge aber auch nicht verstecken, da sie ja im großen und ganzen gesehen relativ irrelevant sind. Etwas kann auch dann “privat” sein, wenn es nicht geheim ist, nämlich dann, wenn es schlicht keinen interessiert.
Naja, ganz unrecht hat Frank nicht.. Du Du die Post-Privacy propagierst, unterstützt Du damit den infomellen Freigeist. Also die Daten nicht zu schützen. technische System würde nachdem Post-Privacy Gedacken entwickelt und somit irgendwann auch die Infos der Person öffentlich werden die das nicht möchte.
Die Technik würde der Gesellschaft vorauseilen. (Haben wir atm imo schon bei Google StreetView)
Unser GG ist im Prinzip schon im Geister der Post-Privacy geschrieben:
http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html (und /art_2.html)
nur an der Umsetzung zwischen den Menschen hapert es noch.
VG und Danke für den Post
Diese Idee ist sehr idealistisch – aber so wie der Kommunismus wird sie in der Realität nicht funktionieren; gerade weil jeder Mensch anders ist und weil es immer die Begehrlichkeit da sein wird. Genau daher ist der einzig richtige Weg die Datensparsamkeit – die aber von den Interessierten natürlich möglichst nie benutzt wird. Dafür gibts zu schöne Anwendungsmöglichkeiten wenn man die Daten erst einmal besitzt…
In einer idealen Gesellschaft brauchen wir weder Datenschutz noch Privatsphäre. Allerdings auch keine Gesetze.
Und jetzt bitte ich “Post Privacy” in Bezug auf eine NICHT ideale Gesellschaft zu überdenken …
Kommst Du zur OM10? Wäre sicher ein interessantes Thema 🙂
Ich hab das Thema schon vor ein paar Wochen als Beitrag für die om10 eingereicht. ;-p
Ob der Beitrag angenommen wird, steht erst in einem Monat fest.
Wenn ich Zeit habe, wird es hier auch noch ein paar mehr Einträge zum Themenkomplex geben in den nächsten Wochen.
@Tirsales: keineswegs geht “Post Privacy” von einer idealen Gesellschaft aus, sondern vielmehr von einer nicht idealen in der Datenschutz nicht durchsetzbar ist.
Typisches Beispiel – ich glaube das stammt auch von Nine – ist der Druck den man in einer Kleinstadt von den Nachbarn hat. Dieser ist ein vielfaches schlimmer und existentieller als ein Werberiese wie Google oder Payback die passende Werbung zuschicken. Und das ganz ohne Daten – oder der Möglicheit von Datenschutz. Wenigstens ist man mit einem Freundeskreis dem man aus dem Netz findet nicht mehr darauf angewiesen im Schützenverein beliebt zu sein.
Gruss
Bernd
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