Vorgeschichte
Ich habe heute auf Twitter den Begriff “Zwangsläufigouting” erfunden (Google findet jedenfalls noch keine Fundstelle dafür). Ich möchte hier kurz erklären, was ich damit meine. Details folgen eventuell irgendwann später.
In einem Schlagabtausch auf Twitter zwischen @cfritzsche und @CaeVye ging es um die Frage von Schutzräumen, Öffentlichkeit und Privatsphäre. Wie so oft wurde das Thema Homosexualität gewählt und es wurde über den Unterschied zwischen Zwangsoutings und Coming-Outs gesprochen. Hier habe ich den Begriff “Zwangsläufigouting” eingeworfen.
Bei einem Coming-Out entscheidet sich ein Schwuler oder eine Lesbe dazu, die eigene Homosexualität gegenüber der Öffentlichkeit, einer bestimmten Personengruppe oder einzelnen Personen offenzulegen. Es handelt sich um einen freiwilligen Schritt, dem ein “inneres Coming-Out” vorhergehen muss, d.h. erst einmal selbst zu erkennen und sich selbst einzugestehen, nicht 100% heterosexuell veranlagt zu sein.
Ein Zwangsouting liegt vor, wenn man gegen den Willen einer Person deren Homosexualität öffentlich macht. Grundsätzlich sind solche Zwangsoutings abzulehnen. Sie können enorme Nachteile für die betroffenen Personen haben, bis hin zum Suizid oder in besonders rückständigen Kulturen tatsächlichen Morden, vermeintlich um die Ehre einer Familie oder einer Gemeinschaft wiederherzustellen.
Bei in der Öffentlichkeit stehenden Personen wie Politikern oder Geistlichen, die nach außen hin sehr homophob auftreten, im Geheimen aber homosexuell sind und das auch ausleben, kann man meiner Meinung nach darüber diskutieren, ob ein Zwangsouting nicht angebracht und ethisch vertretbar ist.
Zwangsläufigouting
Anders als viele meinen, geht es bei der Diskussion um den Post Privacy-Begriff aber nicht um Zwangsoutings. Es geht nicht darum, dass jeder dazu gezwungen werden soll, sein Privatleben offenzulegen. Es geht um etwas ganz anderes, nämlich eine dritte Kategorie: Zwangsläufigoutings.
Was ist damit gemeint? Ein Beispiel: Eine Lesbe weiß, dass ihr Arbeitgeber Homosexualität nicht toleriert und sie vermutlich entlassen würde, falls er von ihrer Homosexualität erfährt. Sie hat also ein Bedürfnis, dass der Arbeitgeber nichts von ihrer Homosexualität erfährt.
Gleichzeitig lebt sie in einer Partnerschaft und hat das Bedürfnis, diese Partnerschaft frei und ungezwungen auszuleben.
Diese beiden Bedürfnisse widersprechen sich, da ein freies Ausleben ihrer Partnerschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zwangsläufig dazu führt, dass ihr Arbeitgeber irgendwann etwas davon erfährt, selbst wenn dieser gar nicht aktiv nachforscht.
Beispiele:
- Eine eingetragene Lebenspartnerschaft steht im nächsten Jahr auf der Lohnsteuerkarte
- Hand in Hand im Park spazieren gehen: Auch Chefs und Kollegen gehen gerne im Park spazieren
- Der Arbeitgeber oder ein Kollege ruft zuhause an, weil eine dringende betriebliche Frage geklärt werden muss, und die Partnerin geht ans Telefon
- Eine Glückwunschanzeige für das Partnerschaftsjubiläum erscheint in der Zeitung
- Im Hintergrund eines Pressefotos sind die beiden Frauen küssend in der Fußgängerzone zu sehen
- Die Frau ist bei einem Freund zu einer Party eingeladen und bringt ihre Partnerin mit. Ratet mal, wer zufälligerweise noch da ist.
- usw…
- …
- …
Es gibt viele vorhersehbare und unvorhersehbare Situationen, die zu einem Zwangsläufigouting führen können. Post Privacy sagt, dass die Menge dieser Situationen in Anbetracht des Internet als neuer Hyper-Öffentlichkeit exponentiell zunehmen werden.
Wo liegt die Lösung? Der Privacy-Ansatz bietet keine mittel- oder langfristige Lösung. Setzt er doch bei den betroffenen Personen voraus, jegliche Situation zu vermeiden, die zu einem Zwangsläufigouting führen könnte:
- Keine Lebenspartnerschaft eingehen
- Nicht gemeinsam im Park spazieren gehen
- Kein gemeinsames Telefon
- Keine Glückwünsche in der Zeitung
- Nicht in der Öffentlichkeit küssen
- Nicht zusammen zu Parties gehen, zu denen nicht nur ein enger Personenkreis eingeladen ist
- usw…
- …
- …
Alles enorme Einschränkungen der persönlichen Freiheit und der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Post Privacy sagt voraus, dass diese Einschränkungen in Zukunft noch zunehmen werden, da eine zunehmende Zahl von Aktionen der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu potentiellem Zwangsläufigouting führen werden.
Wir müssen also an Lösungen arbeiten, die dieses Problem mit anderen Strategien als Verschwiegenheit lösen.
Einfach klasse, dieser Beitrag! Klar, einfach, auch für Nicht-Spacken verständlich, mit konkreten Beispielen abseits der Tastatur, ohne Belehrung, aber mit klarer Ansage – perfekt!
Weniger krass als ein ungewolltes Zwangsouting sind auch Dinge wie Selbstmarketing oder einfach das “Social” in Social Media.
Ich will dass jeder meine Tweets und Facebook Posts lesen kann damit mich so neue Menschen (und alte Bekannte) entdecken und mit mit interagieren.
Es muss nicht jeder tun, aber wenn jemand ein ungeschütztes Twitter Profil hat, so kann man nicht einfach sagen “der Datenschutz würde funktionieren wenn du es nicht nutzt”.
Der Datenschutz funktioniert eben genau nicht, wenn ich mich in der Art einschränken muss.
Ich will Werbungen die für mich relevant sind, ich will meine Webserver Logs auswerten dürfen, und ich will nicht bei jedem Web2.0 Tool bei dem ich nur meine E-Mail angebe 2 Seiten Datenschutzbelehrungen lesen.
Und wenn jemand über meinen Social Graph irgendwelche perversen Vorlieben ableiten kann – dann hilft Ihm das hoffentlich auf dem Weg zur Erleuchtung.
Und das hat garnichts mit Zwangsexhibitionismus zu tun. Nicht jeder muss das tun, aber jeder sollte es tun können.
Gruss
Bernd
“Post Privacy” sagt diesbezüglich eigentlich gar nichts voraus. Das was du beschreibst ist Technik-Determinismus, also eine Zwangsläufigkeit, die mit den technischen Errungenschaften eintreten wird.
Diesem Technik-Determinismus gerade will ja der Datenschutz entgegen wirken. Der Datenschutz will entsprechende Schutzmaßnahmen ergreifen, um die Zwangsläufigkeit zu verhindern. Dies funktioniert sicher nicht in allen Bereichen, die von dir beschriebenen wie Park, Fußgängerzone, Party etc. zählen dazu. Allerdings sind gerade das auch die Bereiche, die eben NICHT vom Technik-Determinismus abhängen, sondern sowieso schon seit Jahrtausenden diese Problematik innewohnen hatten.
Datenschutz kann sehr wohl wirksam sein in den Bereichen die von Technik durchsetzt sind wie Social Networks oder generell alles was mit mehr Vernetzung und mehr Datenbereitstellung einhergeht. Hier kann Regulierung und Datenschutzvorgaben (und dementsprechend auch eine besser konfigurierbare Privatsphäre) zu mehr Freiheit für den Einzelnen führen.
“Post Privacy” bedeutet dahingegen bereits vom Wortlaut her, sich von einer Regulierbarkeit generell zu verabschieden. Hier gilt: Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Hallo Christian
Ich denke, dies ist wirklich der große Knackpunkt bei der ganzen Diskussion. Du und andere haben offenbar noch nicht erkannt, dass das Internet eben nicht einfach ein technisches Konstrukt ist, es ist ein sozialer Raum, der durch und für die soziale Interaktion von Menschen existiert.
Es ist deswegen schlicht und einfach schwer möglich, Schutzmechanismen zu schaffen, die nicht gleichzeitig die freie Bewegung in diesen Räumen behindern.
Es handelt sich hier eindeutig nicht um ein technisches Problem, sondern um ein soziales Problem, das mit einer sozialpolitischen Herangehensweise und nicht mit einer technisch-administrativen Herangehensweise gelöst werden muss.
Pingback: Wer nichts zu verbergen hat… – Wolfsbeeren