Es wird aktuell diskutiert, das ELWS-Verfahren beim nächsten Bundesparteitag der Piratenpartei einzusetzen. Es gibt viele Argumente, die für und gegen das Verfahren sprechen. Meiner Meinung nach nach überwiegen die Argumente dagegen. Ich möchte hier speziell ein Argument vorstellen:
Das Abstimmen von mehreren alternativen Anträgen zum gleichen Thema wird nicht vorhersehbar.
Ganz offensichtlich ist dies bei mehreren Anträgen mit gleicher Zielsetzung.
Gewinnen am Ende alle Anträge mit einer Mehrheit für “Ja”, wird unser Programm zur Lachnummer, weil dann das selbe mehrfach auftaucht, so wie es aktuell schon beim Themankomplex “Drogen/Sucht” der Fall ist, wo sich der Parteitag im Dezember nicht entscheiden konnte, welche Formulierung ihm besser gefällt. Stellt euch das einmal vor bei 10 konkurrierenden Formulierungen, die sich alle gegen eine Vorratsdatenspeicherung aussprechen. Im schlimmsten Fall hat man dann tatsächlich bei den verschiedenen Varianten Details, die sich unterscheiden, es gäbe dann also einen Widerspruch im Programm.
Bei einem Modell, bei dem nur der Antrag mit den meisten JA-Stimmen gewinnt, wird es für den Wähler extrem schwierig, zu entscheiden, für welchen Antrag er sinnvollerweise stimmen soll, um sein Ziel zu erreichen. Stimmen alle nur für ihren absoluten Lieblingsantrag, besteht die Gefahr, dass die Stimmen sich so auf mehrere Anträge verteilen, dass die Mehrheitsmeinung am Ende im Ergebnis gar nicht repräsentiert ist. Stimmt man für alle Anträge, die man grundsätzlich mittragen kann, hat man keine Möglichkeit, einen wirklichen Einfluss auf den Sieger zu nehmen.
Noch schlimmer ist dies bei konkurrierenden Anträgen, die sich tatsächlich inhaltlich in ihrer Richtung oder Stärke der Richtung unterscheiden.
Beispiel: Antrag A möchte Deutschland zu einem Kirchenstaat machen, Antrag B den Status Quo bzgl. Verhältnis Staat und Religion beibehalten, Antrag C eine gemäßigte Säkularisierung, Antrag D eine komplette Trennung von Staat und Kirche und Antrag E alle Religionen verbieten. Anträge A und E würde ich sicher nicht unterstützen. Ob ich jetzt aber B, C oder D zustimme, hängt von meiner Abschätzung ab, wie andere sich verhalten. Ich muss strategisch wählen und zwar auf Grundlage von Ratens. Wenn ich befürchten muss, dass A viele Stimmen bekommt, stimme ich lieber auch für B als Ausgleich. Könnte dann aber auch bedeuten, dass B (Status Quo) gewinnt, obwohl es eine Mehrheit für C und D gegeben hätte, nur weil die Option B gegenüber A und E vorzuziehen wäre. Es gewinnen hier also grundsätzlich immer die gemäßigten Positionen, was für eine kleine Partei mit dem Anspruch, bestehenden Zustände zu ändern, nicht unbedingt sinnvoll ist (und eben auch nicht die wirklichen Mehrheitsverhältnisse abbildet).
Bei einer Live-Abstimmung besteht dieses Problem nicht, da erstens hier vorher über Meinungsbilder die allgemeine Stimmung zuverlässig abgefragt werden kann und zweitens der dreistufige Abstimmungsprozess (Zuerst die beiden beliebtesten ermitteln, dann diese gegeneinander, dann den Sieger generell abstimmen) die Sicherheit für die Wähler erhöht, dass am Ende das herauskommt, was die Mehrheit auch tatsächlich will.
Neben vielen anderen Gründen, die gegen ein ELWS-Verfahren sprechen, bitte ich deswegen schon aus diesem Grund um eine Ablehnung dieses Verfahrens beim Bundesparteitag.
P.S.: Ich bin mir bewusst, dass man die selbe Argumentation auch verwenden könnte, um das Wahlverfahren für Personen beim Bundesparteitag zu kritisieren. Ich denke, es gibt einen ausreichend großen Unterschied zwischen der Entscheidung für Personen und der Entscheidung für Programme, die bedeuten, dass diese Kritikpunkte auf die Personenwahl nicht anwendbar sind.
Hi Nineberry,
habe mal versucht zu erklären, warum das Problem auch so auftritt bzw. sogar noch schlimmer und erklärt warum das bei unserem Vefahren voraussichtlich kein oder eben ein geringeres Problem darstellt bzw. in Niedersachsen bei 2 Parteitagen kein Problem war:
http://wiki.piratenpartei.de/Diskussion:ELWS#Eingang_auf_Kritik
Das Problem was du aufzeigst ist im Grunde ein klassisches Problem des taktischen Wählens zwischen konkurrierenden Dingen. Davon gibt es eine ganze Reihe, die man im Grunde nur angehen kann indem man die Methode wählt, welche die wenigsten Kriterien verletzt, eine gute Übersicht gibt es hier: http://en.wikipedia.org/wiki/Schulze_method#Comparison_table
Die Schulze-Methode sticht da natürlich klar heraus. Diese könnte man in ELWS verwenden, wurde sogar im Dicken Engel, leider erst nach der Aufzeichnung diskutiert.
Überträgt man das hier skizzierte Beispiel auf die in Offenbach behandelten Religionsanträge, ist sogar genau das was du sagst eingetreten, die “extremeren” Anträge also Laizismus bzw. Validoms Antrag wurden dem “mittigen” Antrag hintenangestellt. Im Grunde müsste man sich sogar die Frage stellen, ob es nicht auch sinnvoll sein kann, wenn nicht der Antrag angenommen wird, der ohne taktisches Wählen die Mehrheit abbildet also der vermeintliche “Kompromisantrag” den Vorrang erhält, wo dann viell. weniger Leute der Partei den Rücken kehren (auch wenn sie “nur” eine Minderheit sind).
Aber das ist eine schwierige Frage und im Grunde wirklich unabhängig von ELWS, da muss man wirklich entscheiden, ob man auf Schulze-Methode umstellen möchte, da sollten wir vielleicht mal allgemein eine Diskussion zu führen, mal unabhängig davon wir wir die Antragsreihenfolge auswürfeln.
Die Schulze-Methode kann man nicht auf manuell ausgezählte Papierstimmzettel anwenden.
In Offenbach haben sich in der ersten Abstimmungsrunde der Laizismus-Antrag und der Säkularismus-Antrag als die beiden beliebtesten herausgestellt. In der zweiten Runde gewann dann der Säkularismus-Antrag. Das repräsentiert eindeutig die Mehrheitsverhältnisse in der Partei.
Was die Mehrheitsverhältnisse in der Partei darstellt wissen wir nicht wirklich, können ja mal eine Lime-Survey-Umfrage machen. 😉
Ich habe übrigens bei den Religionsanträgen auf dem BPT taktisch gewählt, war für den Laizismusantrag bzw. dem mit dem Vereinsrecht und gegen Validoms Antrag und habe deshalb auch von Anfang an für den “mittigen” Antrag mitgestimmt, weil ich damit gerechnet habe, dass dieser eher eine Chance hat sich gegen Validoms Antrag durchzusetzen und das für mich taktisch gesehen am wichtigsten war, obwohl mir die anderen beiden besser gefallen hätten. 😉
Schulze geht mit vertretbarem Aufwand nur mit elektronischer Hilfe, haben ja die Berliner afaik bei ihrer Listen-Aufstellung so gemacht. Wie gesagt könnte man machen, ist aber wirklich ein anderes Thema.
Bei den Religionsanträgen in Offenbach gab es doch vor der Abstimmung ein Meinungsbild
Meinungsbilder sind keine Abstimmung. Und auch bei den Meinungsbildern habe ich mich bei allen gemeldet, denen ich prinzipiell zustimmen kann.
Das Ding ist eben nur mit der Schulzemethode hätte ich die Anträge in eine Reihenfolge bringen können, also bspw.:
1. Vereinsrechtantrag
2. Laizismusantrag
3. mittiger Antrag
4. Validoms Antrag
Aber die Frage des taktischen Wählens haben viele Wissenschaftler schon sehr stark untersucht und dafür entsprechende Verfahren entwickelt, wir führen hier eine Laiendiskussion auf unterstem Niveau, das muss klar sein.
Ich bin im Übrigen auch etwas zwischen den Stühlen, da ich dafür bin, dass alle Anträge mit sehr großer Zustimmung, wo auch gleichzeitig kein Diskussionsbedarf besteht, also beide Hürden erfüllt sind, trotzdem nochmal en block zu diskutieren. So könnte man wenn tatsächlich noch irgendetwas Problematisches in dem Block sein sollte, das noch rausholen und dann später einzeln abstimmen. Bei den niedersächsischen Parteitagen hat es zwar auch ohne diese Diskussion gepasst, weil die Leute sich halt vor dem Parteitag bereits gut vorbereitet und diskutiert hatten, aber beim BPT würde ich das machen, zumindest wenn man es das erste mal versucht und schauen will wie es letztendlich funktioniert.
Der Vorteil von ELWS ist für mich auch nicht vorrangig darin zu sehen, dass Anträge gleich angenommen werden *können* (neben Meinungsbilderhebung und demokratischer Antragsreihenfolgebildung), sondern den riesengroßen Vorteil den ich sehe ist, dass überhaupt mal Leute einen Anreiz haben sich vor dem BPT mit den Anträgen zu befassen. Wir reden immer von Schwarmintelligenz, aber schau dir mal an wer sich in der Antragsfabrik, in LQFB und so weiter aktiv beteiligt, so gut wie keiner, weil im Grunde alle wissen, dass es derzeit reine Zeitverschwendung ist. Und das ist das eigentliche Problem was ich angehen möchte, eine bessere inhaltliche Entwicklung insgesamt. Wenn dir oder egal wem dafür ein besseres Verfahren einfällt oder auch ein paar Modifikationen für ELWS dann bin ich sofort bei dir, aber mit dem derzeitigen Verfahren nehmen wir immer wieder unausgegorene Anträge auf Parteitagen an, weil vorher (so gut wie) keine Diskussion und kein Verbesserungsprozess stattgefunden hat, und das einfach weil es sich derzeit nicht lohnt. Mittlerweile werden sehr gute Anträge von älteren Parteitagen, die dort nicht behandelt wurden, nichtmal mehr für neuere Parteitage eingereicht (und kaum einer merkt es überhaupt). Keine Ahnung wie man so ein bestmögliches Wahlprogramm für nächstes Jahr hinbekommen will, ich sehe da derzeit eine extrem desolate Situation und wir versuchen einfach nur eine mögliche Lösung zu erarbeiten und bewusst mit diversen alternativen Ausgestaltungsmöglichkeiten des Verfahrens an sich.