Gedanken zum Wahlsystem bei der Aufstellungsversammlung zur Landesliste
Zuerst muss man feststellen, dass es kein perfektes Wahlsystem gibt. Jedes System hat seine Vor- und Nachteile. Welches System man verwenden möchte, hängt sowohl vom konkreten Kontext der Wahl ab als auch von der eigenen Priorisierung der Anforderungen.
A) Welche Anforderungen bestehen (IMHO)?
- Einfachheit: Der Wähler soll das Wahlsystem verstehen und verstehen, wie sich seine Stimme konkret auswirkt.
- Einfache Auszählung: Das Auszählen sollte einfach und mit möglichst wenig Aufwand verbunden sein.
- Nachvollziehbarkeit: Die Berechnung des Wahlergebnisses soll einfach nachvollziehbar sein.
- Wählerwunsch abbilden: Beim Wahlsystem soll sich das Abstimmungsverhalten einer Wählerin so auswirken, wie sie das beabsichtigt.
- Enthaltung ermöglichen: Im Speziellen soll es möglich sein, sich zu enthalten. Eine Enthaltung ist nur dann eine richtige Enthaltung, wenn die Enthaltung so wirkt, als sei die Abstimmende nicht stimmberechtigt. Bei einer Wahl mehrerer Positionen in einem Wahlgang sollte es möglich sein, sich bei einzelnen Bewerbern zu enthalten. In einem solchen Fall soll also eine Enthaltung zu einem Kandidaten möglich sein, die nicht identisch mit der Ablehnung des Kandidaten ist.
- Alle ablehnen: Bei einer Wahl darf man nicht gezwungen sein, überhaupt für eine Bewerberin zu stimmen. Es muss auch eine Möglichkeit geben, alle Bewerber abzulehnen. (Diese Anforderung ist auch Teil unserer Landessatzung)
- Einfache Mehrheit: Ein Bewerber darf nur gewählt sein, wenn er unter den Abstimmenden eine klare einfache Mehrheit erhalten hat (Mehr Zustimmung als Ablehnung)
- Kein strategisches Wählen: Die Wählerin soll nicht dazu verleitet werden, strategisch zu wählen. Damit meine ich, dass ihre Stimmabgabe für sich genommen nicht ihren Wünschen entspricht, sie ihre Wünsche damit aber eher erreichen kann.
- Minderheiten berücksichtigen: Es sollte möglich sein, dass eine Kandidatin, die eine relevante Minderheitenmeinung repräsentiert, trotzdem auf einen aussichtsreichen Listenplatz gewählt wird, indem die Anhänger der Minderheitenmeinung durch Stimmenkumulation ihr Stimmgewicht auf die Kandidatin fokussieren.
- Bewerberwünsche berücksichtigen: Die Bewerber sollen (zumindest grob) vorgeben können, für welchen Bereich der Liste sie sich bewerben.
- Zeit: Die Wahl darf insgesamt nicht zu viel Zeit kosten. Das ist bei der anstehenden Aufstellung der Landesliste in Baden-Württemberg in Anbetracht der Menge an Bewerbern mit eines der wichtigsten Kriterien.
B) Hier nun ein paar Gedanken, wie sich die verschiedenen möglichen Wahlmodi in Bezug auf diese Anforderungen verhalten:
- Eine Stimmabgabe gleichzeitig für die Bestimmung des Einzugs auf die Liste als auch für die Bestimmung der Reihenfolge zu verwenden, verstößt mit großer Wahrscheinlichkeit gegen A8: Wenn eine Ja-Stimme für einen Bewerber diesen gleichzeitig auf die Liste setzt und seine Listenposition verbessert, sind die Wähler versucht, ihm ihre Ja-Stimme zu verweigern, wenn sie ihn schon auf der Liste sehen wollen, aber nicht so weit vorne.
- Wenn man zur Vermeidung dieses Problems direkt mir Kumulieren arbeitet, verstößt man gegen A7, weil aus einer Wahl mit kumulierten Stimmen keine klare einfache Mehrheit ermittelbar ist, und gegen A5 und A6, weil es keine differenzierten Möglichkeiten zur Enthaltung oder Ablehnung einer Kandidatin gibt.
- Blockweise Abstimmungen (in Bezug auf die Listenplätze) haben den Vorteil, dass die Gefahr von strategischem Wählen abnimmt (A8). Außerdem kann die Anforderung A10 berücksichtigt werden.
- Was noch wichtiger ist: Durch die Möglichkeit, dass sich Bewerber für hintere Listenplätze während des Auszählens der vorderen Blöcke vorstellen, kann enorm viel Zeit gespart werden. (A11)
- Der Nachteil besteht darin, dass A9 so schwer zu erfüllen ist.
Betrachtung verschiedener Wahlsysteme
Mein Lieblingssystem
Mein Lieblingssystem läuft in vier Schritten ab:
- Alle Bewerberinnen stellen sich vor.
- Die Versammlung bestimmt, wie viele Plätze n sie besetzen möchte.
- Es finden Wahlgänge statt, um die Bewerber auf die Liste zu holen. Dabei kann man für jede einzelne Bewerberin mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ (weder Ja noch Nein angekreuzt) stimmen. Gewählt sind alle Bewerber mit mehr Ja- als Nein-Stimmen. Notfalls gibt es weitere Wahlgänge mit dem gleichen Muster, bis mindestens n Plätze vergeben sind. Haben mehr als n Bewerber die Liste erreicht, fallen die mit den wenigsten Ja-Stimmen im letzten Wahlgang wieder runter.
- In der folgenden Abstimmung über die Reihenfolge der Listenplätze kann jede Wählerin n Stimmen vergeben und diese auch auf die verschiedenen Bewerber kumulieren (maximal drei Stimmen pro Bewerber). Die Listenreihenfolge ergibt sich aus der Anzahl der Stimmen pro Bewerber. Bei Gleichstand finden dann noch einfache Stichwahlen statt.
Dieser Modus erfüllt alle meine Anforderungen außer A10 und A11. A10 ist meiner Meinung nach am ehesten verzichtbar. Zur Not könnte man den Bewerbern die Möglichkeit geben, bei der Kandidatur einen Mindestplatz anzugeben. Wenn der Bewerber auf einen besseren Platz gewählt wird, würde er dann entsprechend zurückgestellt.
Entscheidend ist aber der Verstoß gegen A11: Bei einer Versammlung mit weniger Bewerbern wäre dieses Verfahren sicher gut geeignet, bei den zu erwartenden über 100 Bewerberinnen in Wernau, ist dieses Verfahren einfach zu zeitaufwändig, vor allem weil es keinen Parallelbetrieb von Wahlen und Bewerbervorstellungen erlaubt.
Der Vorschlag der Beauftragten
Nachzulesen hier: http://wiki.piratenpartei.de/BW:Bundestagswahl_2013/Vorschlag_LAV-Ablauf_und_Wahl
Die Beauftragten wählen ein Verfahren mit einer blockweisen Wahl, wahrscheinlich den Überlegungen B3 und B4 folgend. Um das Problem B5 der nicht erfüllten Anforderung A9 zu umgehen, wird ein weiterer Wahlgang mit Stimmenkumulation als Vorauswahlrunde vorgezogen. Hier haben Gruppen mit einer Minderheitenmeinung tatsächlich die Möglichkeit, einen von ihnen präferierten Kandidaten durch Stimmenkumulation nach vorne zu bringen. Es entstehen dadurch aber mehrere Probleme:
Erstens ist diese Vorauswahl nicht bindend. In der zweiten Runde können die so gepuschten Bewerberinnen wieder von der Mehrheit abgelehnt und auf einen hinteren Platz verwiesen werden. [Zweitens führen die vorgegebenen Stimmzahlen (3 mal so viele wie Plätze zu vergeben) eben nicht zu einem Minderheitenschutz, das ließe sich aber durch Reduktion der möglichen Stimmen lösen.]
Das eigentliche Problem ist also nicht wirklich gelöst, diese Nicht-Lösung wird aber teuer erkauft.
Zum einen kosten die zusätzlichen Wahlgänge sehr viel Zeit und verstoßen damit gegen Anforderung 11, zum anderen wird Anforderung A8 verletzt: Wenn die gleiche Stimme sowohl zur Bestätigung des Bewerbers dient als auch zur Bestimmung der Listenreihenfolge, werden die Wähler ihre Stimme aus strategischen Überlegungen eher zurückhalten. Das wird wiederum dazu führen, dass bei den Abstimmungen nicht ausreichend viele Bewerber eine einfache Mehrheit erhalten und dass viele Wahlgänge zusätzlich abgehalten werden müssen, also sogar noch zeitintensiver.
Außerdem ein kleines Detail: Das Verhältnis aus Ja- und Nein-Stimmen ist kein gutes Kriterium, da hier Bewerberinnen mit vielen Enthaltungen im Vorteil sind. Stattdessen sollte die absolute Differenz der Ja- und Nein-Stimmen betrachtet werden oder einfacher noch die absolute Zahl der Ja-Stimmen.
Mein Vorschlag:
Mein Vorschlag gibt die Anforderung A9 bewusst auf, unter der Annahme dass die Anforderungen A9 und A11 bei der aktuellen Kandidatensituation nicht sinnvoll gleichzeitig erfüllbar sind. A9 ist meiner Meinung nach nur erfüllbar, wenn man die Aufnahme auf die Liste und die Bestimmung der Reihenfolge innerhalb der Liste komplett voneinander trennt, was eine blockweise Wahl der Listenplätze ausschließt, was bei der Menge an zu erwartenden Kandidaten zu viel Zeit kostet.
Das einfachste System ist eine einzelne Wahl der einzelnen Listenplätze. Hier kann es auch nicht zu strategischem Wählen kommen. Deswegen schlage ich vor, die ersten zehn Listenplätze einzeln zu wählen. Bei jeder einzelnen Wahl kann man für jeden Kandidaten mit Ja/Nein/Enthaltung stimmen. Gewählt ist, wer mehr Zustimmung als Ablehnung und die meiste Zustimmung (absolute Zahl der Ja-Stimmen) hat. Das Auszählen funktioniert sehr schnell, da es kein Kumulieren gibt. In den Auszählpausen können sich jeweils die Bewerber für die hinteren Listenplätze vorstellen.
Für die Plätze 11-20 und 21-30 findet jeweils eine blockweise Wahl nach folgendem Schema statt:
Auf einem Stimmzettel kann man eine Bewerberin jeweils einerseits mit Ja/Nein/Enthaltung bewerten, andererseits analog zum Vorschlag der Beauftragten auch Stimmen kumulierend auf die einzelnen Bewerber verteilen. Die Ergebnisliste wird nach den erhaltenen Stimmen sortiert. Gewählt sind die Bewerber mit den meisten Stimmen, die außerdem mehr Zustimmung als Ablehnung erfahren haben.
Hier besteht ein geringes Risiko für strategisches Wählen, durch die Trennung von Zustimmung und Priorisierung einerseits und durch die geringere Relevanz der hinteren Listenplätze ist dieses aber niedrig.
Auch das ist nur ein Vorschlag, der sicherlich einige Nachteile mit sich bringt. Lasst uns darüber diskutieren!